
In Berlin unterwegs mit Nell Zink und “Sister Europe”
Die Schriftstellerin Nell Zink hat sich, auch wenn das Stichwort im Gespräch mit Moderaror Andreas Knaesche nicht fällt, dem poetischen Realismus verschrieben. Mit ihrer Lesung aus dem Roman “Sister Europe” begann das Europäische Literaturfest Brandenburg. Peter Böthig und Otto Wynen konnten als Kuratoren fast fünfzig Gäste im Alten Gymnasium begrüßen.
Nell Zink ist in den USA geboren. Seit einigen Jahren lebt sie in Bad Belzig südlich von Berlin. Über ihre eigene sexuelle Identität sagt sie nichts, aber sie weiß, dass “jeder Menschen damit zu tun hat”. Irgendwie. Im Fall von Nicole (15) ist es so – und damit begann der erste Leseabschnitt, dass sie sich als Transmädchen erlebt und nun endlich in Berlin auf dem Strich erproben möchte, wie sie ankommt bei gewissen Männern. “Sie trug ein Kleid, das ihr bis zu den Waden reichte, und eine Leidensmine.” Zink will Vorstellungen wecken und Atmosphäre vermitteln, dabei stets locker bleiben und der Fülle an Eindrücken von ihren bunt gemischten Menschen im gegebenen Zeitrahmen Ausdruck verleihen. Die Handlung dieses Tages ist über weite Strecken im Berliner Tiergarten angesiedelt. Es muss eben nicht immer der Alexanderplatz, Hotel Adlon oder Bahnhof Zoo sein.

Mit Demian, Nicoles Vater, geht’s zu jener Preisverleihung. Er ist Kunstkritiker. Der Moderator nennt die zweite gelesene Passage eine Satire. Dass sich der Spott auf die Literaturpreiswelt und die Dilemmata im Schmelztiegel der Kulturen in Grenzen hält, sei auch erwähnt. Mehr Heiterkeit weckte die Autorin durch ihre Anmerkungen zur eigenen Karriere, sie erzählt von Hemmung und Ermunterung, etwa von Starautor Jonathan Franzen. Für den war sie wohl eine Entdeckung. Sie freut sich immer noch: “Oh Mann, ich kann’s!” Die interessiert Lauschenden kennen nun manche Menschen ein bisschen, auch Livia, auch Toto und Klaus oder Harriet, die in den USA geborene Mutter von Nicole. Und dann Radi.
Zink schreibt Amerikanisch. Sie liest Deutsch. Dass es keine Kostprobe aus ihrem Originalskript in ihrer Muttersprache gab, ist schade. So blieb es bei ihrer Prosodie in deutscher Prosa (Übersetzung: Tobias Schnettler), etwa bei Sätzen wie: “Wenn die Nazis an die Macht kämen, würde ich ins Flugzeug steigen und zu meinen Großeltern nach Amerika ziehen.” Nicole spricht – also im Buch. Es ist drüben noch Biden-Zeit, es ist hier noch nicht Weidel-Zeit. Junge Leute reden in der dritten gelesenen Passage über Stolpersteine. Ein paar Äußerungen sind sachlich schlichtweg falsch. Irgendeine Erzählinstanz hat nicht das letzte Wort bei Zink, das ist für sie Prinzip. Eine Oberlehrerin erzählt hier nicht. Nein, eine moderne Person oder Gestalt, die das Leben in der Stadt spürt, die mitgeht, wenn es pulsiert, und einfach neugierig ist auf das, was kommt.
Als Bürgerin ist Nell Zink selbst dabei durchaus auch besorgt, was politisch und gesellschaftlich noch kommen könnte. Die Autorin bekam am Ende warmherzigen Beifall für diese Nacht mit ihren Figuren in Berlin.