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IN D 35 eins
Tim Köhler (links), Ariane Feierbach, Nico Ruhle und Tim Eisenlohr.

Das vereinigte Deutschland wird 35 – ein Gesprächsabend im Museum

04.10.2025 | Volkmar Heuer-Strathmann

Tim Eisenlohr war als junger Umweltaktivist in der DDR eine Zeitlang in Haft. Seine Erinnerungen, seine Gegenwartsbetrachtung und sein Blick auf Kommendes – all das allein könnte abendfüllend sein. Doch im Museum Neuruppin hatte man sich in Kooperation mit der Bundesstiftung zur “Aufarbeitung der DDR-Diktatur” für eine offene Podiumsdiskussion entschieden. Die war auch nicht uninteressant und bot Stoff für mindestens fünf Abende.

Neben Tim Eisenlohr saßen Nico Ruhle, Neuruppins Bürgermeister, und Ariane Feierbach, die Ortsvorsteherin in Wuthenow, auf dem Podium. Um eine lockere Moderation bemühte sich Tim Köhler von besagter Stiftung. Feierbach ist in Gildenhall aufgewachsen, Ruhle in Dessau, Eisenlohr in Ost-Berlin. Von der “Dritten Generation” war die Rede, trotz gewisser Altersunterschiede. So war Nico Ruhle erst acht Jahre alt im Jahr der Maueröffnung. Tim Eisenlohr erlebte das Schlüsselstück als Jugendlicher aufgrund einer Ausreisegenehmigung (schwere Erkrankung der Mutter) bereits in West-Berlin. Und Ariane Feierbach eben in Neuruppin, “drüben”, eben in Gildenhall. Und sie erinnert sich auch gerne an die Kindheit in der DDR. Warum die Eltern mal wegwaren zu einer “Versammlung in der Kirche”, wurde daheim nicht besprochen. Aber es lag was in der Luft.

Ein Staat – drei Lebensläufe recht unterschiedlicher Art, schon im Hinblick auf das Erziehungssystem der DDR. Das war übrigens Unterrichtsthema in den Schulen der BRD. Welches Bild vermittelt wurde, wäre mit Bezug auf einzelne Bundesländer zu vertiefen. Tim Eisenlohr gibt ein Stichwort aus seiner Jugend. Die “Uniformierung” habe ihn an die HJ erinnert. Er spielte damit nicht allein auf die “Blauhemden” der FDJ an.

Nico Ruhle sagt womöglich den Satz des Abends: “Die Wende ist an keiner Familie in der DDR spurlos vorüber gegangen.” Arbeitsosigkeit, das Thema der frühen Jahre. Mehr berufliche Sicherheit, der Wunsch für die kommenden. Berufsorintierung für die Jugend im Osten, geprägt von Kräften aus dem Westen…Was die “neue Zeit” für Menschen bedeutete, die vorher aus der DDR geflohen oder eben ausgereist waren, war später kurz Thema. Wieder was für einen ganzen Abend. Nicht anders die ersten Jahre mit brutaler Gewalt rechtsradikaler junger Leute im Osten, etwa gegen Vietnamesen, also ehemalige “Vertragsarbeiter” und ihre Familien. Aus dem Publikum wird “Oststolz” in den Raum geworfen als brisantes Thema der Gegenwart. Erneutes Schulversagen? Wie kann man überhaupt erfassen, was 1990 als Aufgabe vor den Lehrkräften stand? Pauschalvorwürfe wurden vehement zurückgewiesen. Applaus.

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Tim Eisenlohr – eine Biographie, die größtes Interesse weckte.

“Auch wird gemeinsam mit dem Publikum der Frage nachgegagen, was ‘Einheit’ in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft bedeutet und wie Einheit und Demokratie krisenfest und zukunftssicher gestaltet werden können.” So hieß es vielversprechend in der Einladung. Zu viel versprochen! Hochkomplex ist schon allein der Blick zurück. Nehmen wir nur die heikle Frage nach den Voraussetzungen in der SBZ und in den drei Westzonen. Nächstes Abendthema, faktenbasiert. Man kommt nicht so leicht zur Frage, wie die AfD in Zeiten der Verunsicherung an Zulauf und Zustimmung gewinnt in Bundesländern, in denen man die Internationale bis November 1989 noch auswendig lernte an den Schulen. Der Hinweis auf “ein generelles Misstrauen im Osten gegenüber den Staatorganen” wirkt plausiblel nach 40 Jahren SED-Propaganda. Aber “Staatssozialismus” auf SED-Art und “Sozial- und Rechtsstaatlichkeit” auf BRD-Art gleichsetzen? Nächster packender Abendtermin.

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Ein Fotogruß zum erinnerungsschweren 35. Geburtstag.

Dann wäre auch ausführlich über die Verfassung zu sprechen, also das Grundgesetz und die im Museum mehrfach kritisierte Tatsache, dass das Geburtstagskind sich kein neues Fundament gegeben hat. Über “Vater und Mutter” wäre zu reden, in diesem Fall mal im Plural. Über die “Bonner Republik”, die “Westbindung”, das “Wirtschaftswunder”, die “formierte Gesellschaft” und die “APO”, die NATO, die “Friedensbewegung” und die untergründige Verbindung mit Oppositionellen in der DDR. An Literatur ist doch auch kein Mangel, sachlich oder belletristisch, biografisch oder dramatisch. Dann die Film- und Klangkunst. Eben erst hat Kaleb Erdmann mit dem Roman “Die Ausweichschule” einen Düsseldorfer Blick auf den Amoklauf von Erfurt im Jahr 2002 geworfen. Einladen in den Fontane-Kosmos? Und endlich ein Spielfilm über die kurz angesprochene “Befreiung der Heide”? Oder ein Bühnenstück von der Sehnsucht der Jahrzehnte von ziemlich schlechten Freunden Geplagten nach Stille und Selbstbestimmung?
Dass Tim Köhlers Gäste im Gemeinwesen engagiert sind oder sogar voll berufstätig, hat sicher auch Wurzeln in der DDR. Das wurde nicht unterschlagen. Und man konstatierte, in der BRD seien die Kenntnisse im Hinblick auf die DDR 1990 gering gewesen. Und das Interesse sei bis heute nicht eben groß. Und umgekèhrt? Na? Mal ehrlich! Vom Westfernsehen und seiner Prägekraft war mehrfach die Rede. Vom Siegeszug der privatkapitalistischen Privatsender in der BRD und ihrer Reklameparade nicht – zugangsbedingt, beschränkt mindestens bis zum Tag der Geburt. Drüben übrigens kurz und hilflos in den 80ern heißdiskutuert, wie heute die asozialen und sozialen Netze im Geburtstagsland.
Was sagt ein Bürger, selbst Historiker, der sich 2025 “in Wuppertal an das Zwickau von 1992 erinnert fühlt”, eigentlich über sein Selbst-, sein Deutschland- und sein Weltbild? Nächstes verzwicktes Thema, nicht leicht zu wuppen: Rezession zur Geburtstagszeit – ein Blick aus Neuruppin und OPR in den Spiegel und auf die je einzigartigen Regionen der Republik…

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Fotos: vhs