
Musikgeschichte als Familiendrama – viel Neues aus dem Hause Strauss
Strauss – der Name findet sich in dieser Schreibweise fast dreißigmal im Register von Michael Lemster. Ein Stammbaum bietet am Ende dankenswerter Weise Orintierung. Dass die zwei berühmten Komponisten aus der Familie Strauss beide Johann hießen, macht die Sache nicht leichter. Sie sind Vater und Sohn. “Walzerkönige” werden sie auch gerne genannt. Da passte es, dass die Lesung als Überraschung mit Tanzeinlagen begann. Gabi Keller vom TSV Neuruppin präsentierte zwei Paare, die echte Begeisterung weckten. Leidenschaft und Harmonie dieser Art hätten fast vergessen lassen, dass die konzeptionell geschickt angelegte Lesung Konkurrenz, Konflikte und allerlei Kuriositäten in den Mittelpunkt stellte.

“Eine Wiener Familie revolutioniert die Musikwelt”, heißt es im Untertitel. Johann Strauss’ Sohn Johann kommt 1825 in Wien zur Welt. Über den Vater, Jahrgang 1804 und mit Anna Streim, Jahrgang 1801, verheiratet, erfährt man viel Skandalöses, teils Unglaubliches. Die Nebenfrau im eigenen Haus? Zahlreiche Kinder mit beiden, in einem Schicksalsjahr (der Frauen) zwei Entbildungen in schneller Folge? Da mag dem Ungestillten nur die Flucht in die Arbeit geholfen haben – als Komponist, als Dirigent oder an der Violine. Feministisch ist diese Familiengeschichtsschreibung nicht angelegt, aber schon durch einen leicht spöttischen Ton und ein paar überaus lockere Zwischenbemerkungen macht Lemster deutlich, dass es ihm nicht um eine schlichte Geniegeschichte aus zwei Generationen geht.
Im Mittelpunk des Wittstocker Abends steht der Tag, an dem Jean, wie der Sohn sich selbst gerne nennt, dort, wo der Vater schon umjubelt wurde, als Dirigent im Rampenlicht glänzt. Alle Versuche des Vaters, den Weg des Erfolgs zu versperren, waren vergeblich gewesen. Und Frau Mutter, wie man früher gerne sagte? Die Fürsorgliche? Die Förderin? Die Betrogene? Der Autor ist ziemlich sicher, dass sie jenen Abend nicht daheim mit Handarbeit oder in Tränenkissen verbracht hat. Man möchte es ihr wünschen. Und dass es guttat nach den Untaten und Unarten des eitlen Gatten.
Die Story geht weiter. Lemster führt kurz hinein in die Welt der Oper und Operette und greift weit voraus – bis zum Einstampfen von Partituren, Notizen und einer Unmenge an Hausliteratur. In dieser Krise steht Jeans Bruder Eduard bereits im Mittelpunkt, ebenfalls nicht unbegabt. Ob die verträumte “Moldau” vom Auftakt da hülfe, inneren Frieden zu finden, oder der bewegend dargebotene “Frühlingsstimmenwalzer”?
Gerade durch das verwickelte Personengefüge und den Verzicht auf endgültige Antworten weckt der Autor Interesse, das kompakte Werk von A bis Z zu studieren, womöglich mit etwas Straussmusik im Hintergrund. Michael Lemster eröffnete, den Schriftsteller Hermann Broch zitierend: “Der Adel hat eine Familiengeschichte, der jüdische Bourgois eine Neurosengeschichte.” Und die überaus erfolgreichen und populären “Walzerkönige”?

Fotos: vhs