
Irrsinn, Wahnsinn, Schwachsinn und Lebenssinn in vielen Variationen
Bluesmusik und elektronischer Herzschlag stehen am Anfang, Livemusik bildet den Ausklang. Leon Engler konnte nicht wissen, dass auch zahlreiche junge Leute unter den Gästen in der Kirche in Alt-Ruppin sein würden, um mehr über sein Werk “Botanik des Wahnsinns” zu erfahren. Nicht nur sie wirkten total fasziniert von dieser Performance anlässlich seines außergewöhnlichen Debüts. Moderator Knut Elstermann nannte es “aufwühlend” und “inspirierend”.
Der junge Autor erzählt, wie sehr Fälle von psychischer Krankheit in seiner eigenen Familie prägend waren. Die Absicht, aus dem Stoff einen Roman zu machen, hatte er schon früh. Nun liegt das Ergebnis vor und erfreut sich zu Recht großer Nachfrage. Am Evangelischen Gymnasium hatte eine Lehrerin die Idee, ihre Zöglinge durch Auszüge aus dem Buch “Botanik des Wahnsinns” zum Besuch der Veranstaltung zu motivieren. Wenn das endlich Schule machte in der Fontanestadt Neuruppin, könnte der Weg der Veranstalter um Otto Wynen bei solchen Entdeckungen nur in größere Spielstätten führen.
Autor und Protagonist tragen den gleichen Vornamen. Nicht denselben. Das macht den Unterschied. Autofiktion wird geboten. Im Gespräch mit Knut Elstermann weist Engler auf die “Vererbung” von Seelenleid hin, ohne etwa dem biologistischen Irrsinn der reinen Vererbungslehre nachzuhängen, der von den Nazis noch mit ihren “Rassenfragen” verknüpft wurde. Was Engler bewegt, das sind die Fragen der Dispositionen, der geteilten, aber oft nicht mitgeteilten Traumata, und um Heilung, um Linderung von Leid geht es auch.

Heiterkeit weckte der Sympathikus nicht nur unter den jüngsten Gästen mit diesem Satzgefüge: “Der erste Mensch, von dem ich denke, dass er verrückt ist, ist mein Deutschlehrerin.” Als es heißt, er wollte eine Mutter, keine Patientin und keine Tote, ist die Handlung schon weit fortgeschritten. Man weiß, dass Leons Weg nach Wien zurückführte, in die Psychiatrie. Nicht als Patient, nicht als Zwangseinweisung oder zum Entzug, sondern als junger Mitarbeiter: “Ich befestige mein Namensschild, damit alle wissen, dass ich hier arbeite.” Denkwürdig, was er über “Normalität”, den aktuellen Leitbegriff von Hassverliebten, verlauten lässt. Ob sein Wiener Nachbar, ein Geistesmensch, ein Buchstabengelehrter, echt “normal” ist? Und die leitende Psychologin, über die man liest, dreißig Jahre Psychiatrie stünden ihr in die Augen geschrieben? Aus der Patientenakte des eigenen Großvaters wird gegen Ende sogar vorgelesen: “Mit Anfang zwanzig versuchte er das erste Mal, sich das Leben zu nehmen, einer unerfüllten Liebe wegen.” Eine Aktennotiz: “Freundlich, ruhig und verwirrt.” Später: “Blieb hier bis zu seinem Tod.” Um die Fehldiagnose “Schizophrenie” geht es auch.
In Neuruppin hat man den Vorteil, sich am Ort mit der Geschichte einer “Irrenanstalt” alten Typs beschäftigen zu können. Und zu sehen, wie im 21. Jahrhundert um Heilung gerungen wird. Ob auch Fachkräfte von der Uniklinik im Auditorium waren? Keine Ahnung. Keine Namensschilder der Normalität zu sehen. Otto Wynen hatte seitens der Veranstalter schon vorab nicht mit Lob gespart: “Großartiger Titel! Großartiger Text!” Dann die geschickte Art Knut Elstermanns, ein Literaturgespräch zu führen. Anhaltender Applaus im Gotteshaus! Andrang am Büchertisch! Es kann botanisiert werden im Irrgarten des Lebens und Erlebens, vermutlich auch am EVI.
Fotos: vhs