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IN filmmusikperformance 1
Wagemutig und sympathisch: Felix Kroll als Kinomusikkünstler in Netzeband.

Krachen, Wispern und Elektrisieren im “Wachsfigurenkabinett” in Netzeband

03.11.2025 | Volkmar Heuer-Strathmann

Im Jahr 1924 kam der Stummfilm “Das Wachsfigurenkabinett” von Paul Leni in die Kinos. Musikalische Untermalung war üblich in jenen Jahren. Natürlich live. Der Musiker Felix Kroll hat sich intensiv mit dem Stoff auseinandergesetzt. In der Temnitzkirche in Netzeband war zu erleben, wie er mit Akkordeon und Synthesizer ans Werk geht und weder sich noch die Gäste schont. Dafür gab es am Ende viel Applaus und lobende Worte – nicht nur von Frank Matthus als Veranstalter.

Man könnte auch von einem Märchen sprechen. In Neuruppin auf dem Martinimarkt wäre die Handlung nicht schlecht platziert, das zeigt das Filmgewimmel zu Beginn mit Buden, Lichtkegeln und Karussells. Felix Kroll liefert den Sound. Für’s Wachsfigurenkabinett soll ein junger Autor Geschichten erfinden. Im Mittelpunkt wie heute bei “Madame Tussaud” legendäre Figuren: Harun al Raschid, Iwan der Schreckliche und Jack the Ripper. Ob hier billigste Klischees bedient oder filmisch karikiert werden, wäre eine eigene Untersuchung wert. In aller Stille und mit offenem Ausgang.

Der junge schöne eitle Autor, ein Kinotyp, geht mitten hinein ins Getümmel. Und Felix Kroll geht einfach mit. Das ist sein Rezept, das ist sein Risiko. Expressionistisch wird das Werk genannt. Extrem expressiv sind Mimik, Gestik und Bewegung. So drehte man damals. Die Blicke sind zumeist stechend, manchmal auch lieblich, die Bewegungen oft eckig, alles fokussiert sich auf die Kameralinse, eine Frühform der Gruppenselfies mit einheitlicher Blickrichtung. Das Licht tut das Seine.

IN filmmusikperformance 2
Szenenentwürfe für die Schicksalshelden und reichlich Charmeoffensiven.

Wenn man selbst mal auf einer Werft ganz unten im Bauch eines gigantischen Hochseefrachters arbeiten durfte, hat man einen schönen Vergleich. Solche Musik wird industriell schon lange gerne gegeben. Hier also als Jahrmarktkitzel. Menschengewühle, Bauchgefühle, Begehren und Verwehren. Jede Aufwallung wird Klang, jede Aufgeregtheit hat Rhythmus. Den Sound der Szenen, den Gang der Tageszeiten entwickelt der Synthesizer. Geilheit, Machtanspruch und Sadismus haben unterschiedliche Männergesichter. Der Klang ist noch unterschiedlicher. Verlogenheit und Verwirrtheit, Anmut und Hinfälligkeit strahlen die Frauen aus. Chansons, Jazz und Elektrobeat entladen sich im Treiben dieser Sand-, Eis- und Marzipanwelt. Eine ideale Situation für den Akkordeonspieler. Wie ein fahrender Geselle gibt er den Ton an im Rummel. Herzmaschinen, Magen- und Darmpumpen und Hirnsensoren feiern Konzert. Niemand rennt raus.

IN filmmusikperformance 3
Lüsternheit, Fettleibigkeit und Gottlosigkeit – die alte neue Dreifaltigkeit?

In diesem Kirchenkino geht’s durch den Himmel des Begehrens, durch die Hölle der Eifersucht, die Enge mannhafter Herrschsucht, die Weite der Skriptphantasie. Englische Sätze blitzen kurz auf. Felix Kroll sieht sie auch. Sein Vorteil: Er kennt sie schon. Sein Kunstwerk ist beste Improvisation, ganz nah am Stoff, an der Bildspur. Die Wachsfiguren leben. Sogar der fettleibige Moslem aus der üblen Klischeekiste und die anderen Monster der Geschichte. Russland, Britannika, wahlweise Amerika, alles da. Eine Sanduhr spielt Schicksal. Felix Kroll spielt wie verrückt. Keiner ruft den Arzt.

Dass der Akkordeonist aus Berlin später im Gespräch mit dem Hausherren völlig ungestresst wirkt, gehört auch zu den Erstaunlichkeiten dieses großartigen Abends. Er muss sein wagemutiges Klangexperiment wahrlich nicht schönreden lassen. Dafür ist es, dafür ist er einfach zu gut. Und der Film? Man hat “Das Wachsfigurenkabinett” aus Zerstörtem und Verlorenem wiederhergestellt. Kroll lässt es krachen. Unentwegt. Ob man als Neuruppiner danach noch auf den Martinimarkt gehen sollte? Oder lieber erstmal Waldesruhe? Oder Weltnachrichten als Fortsetzung der Tollhausszenen, dann mit Wachsfiguren wie Donald und Wladimir?

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Fotos: vhs