
Von Lebenskrise und Landidylle, von Höhenrisiken und Oppositionsgeist
Was es “Neben der Spur” in Neuruppin zu hören und zu lesen gab…
Eine Stadt am Wasser, wo die Küste nachts viel Lichterglanz bietet, ein erfundener Flecken namens Fehrdorf, dann Magdeburg und nur noch Magdeburg, schließlich Budapest im Wechselspiel mit dem Berlin, durch das lange ein Riss geht, und Wien. So kann man die Schauplätze aufreihen, die von entscheidender Bedeutung sind in den Werken, die über Pfingsten in Neuruppin “Neben der Spur” präsentiert wurden. Die Zahl der Interessierten war hoch.
Carolin Würfel las aus “Zuhause ist das Wetter unzuverlässig” (2025), Martina Behm hatte “Hier draußen” (2025) mitgebracht. Annett Gröschner gab Passagen aus “Schwebende Lasten” (2025) zum Besten. Und Nikoletta Kiss war mit “Rückkehr nach Budapest” (2025) zu Gast. Moderiert wurde von Peter Böthig – mal alleine, mal mit Otto Wynen, dann Sieglinde Geisel und schließlich Andreas Knaesche. Andere Prominenz hatte absagen müssen. Deshalb die nicht weniger professionelle Begleitung durch die beiden hiesigen Literaturliebhaber, die gemeinsam mit Uta Bartsch für das imposante Literaturfest in der Fontanestadt Neuruppin verantwortlich zeichnen.
Vier Autorinnen, vier Romane, vier Auftritte. Die größte Heiterkeit weckte Martina Behm. Paartherapeutische Tipps beim Landfrauentreffen irgendwo in Schleswig-Holstein, da ist gut Lachen. Das traurige Thema Tod hat in allen vier Werken Bedeutung. “Habe beschlossen, in sechs Monaten ist Schluss”, heißt es zur Eröffnung bei Würfel. Eine Tagebuchnotiz vom 1. Januar 2022. Nicht ihre, nein: Authentizität als Fiktion. Und von da an ein oft vergebliches Ringen um Selbstbestimmung, auch im Rückblick auf prägende Frauen in dieser Familie, im Rundumblick und durch Innenschau. Und eben Suizid als letzte Freiheit. Eigentlich will die Protagonistin leben. Und geliebt werden.

Ganz anders drängt sich die lebensfeindliche Todesthematik auf in “Hier draußen”. Wild wird angefahren in Waldeseinsamkeit. Im Todesfall, das weiß man dort unter Bauern und Jägern, hat der Schuldige noch genau ein Jahr. Dann ist Schluss. Allerdings nur, wenn eine weiße Hirschkuh getötet wurde. – Dumm gelaufen, dürfte Ingo denken, der als Start-up-Typ viel fährt zwischen Hamburg und Fehrdorf, wo man lebt als moderne Mittelstandsfamilie. Ein Jahr? Der arme Hahn, dem es in einer vorgelesenen Passage an den Hals geht, hat kein Jahr mehr. Zu laut gewesen, der Typ, der Macker. Die Utopie der Landkommunen – auch längst erledigt. Dann Höfesterben und lebendiges Dorfleben, beides geschickt verflochten. Dass die Debütantin von Juli Zeh und deren Romanwelten nichts wissen will, kommt auch an den Tag. Schon der Name lässt sie erkalten.

Extreme Vorsicht verlangen “Schwebende Lasten”. Dafür, dass so viel Leid, so viel Krieg, so viel Trunksucht zum Thema wird bei Annett Gröschner, hat sie verdammt gute Laune. Und kommt damit sehr gut an im knallvollen Schulraum. An Karl Friedrich Schinkel kam sie beim Sterben auch nicht vorbei. Denn wie eine Kirche gebaut ist, das kann Folgen haben, wenn Menschen dort Zuflucht suchen vor den Bomben der Alliierten. Und untergehen. Schinkels Schuld? Nicht wirklich. Kriegsschuldfragen stellen sich. Die ganze Wucht der Weltgeschichte – von der Weimarer Republik über die NS-Zeit, die karge SBZ und die DDR als “Arbeiter- und Bauernstaat” mit Frauen auf Kränen bis zur “wiedervereinigt” genannten Bundesrepublik, das bietet die gefeierte Autorin im Lebenskreis ihrer Protagonistin Hanna Krause. Das Blumenmädchen, später Kranführerin, liegt ihr am Herzen. Kein Wunder, wenn so viel eigenes oder nahes Leben aus der Stadt an der Elbe einfließt in den Stoff.

Bleibt Marta aus “Rückkehr nach Budapest”. Bleiben ihre Cousine und Konkurrentin Theresa und jener heißbegehrte Konstantin, der als junger Schriftsteller in der DDR nicht auf Linie ist. “Was ich zur Beerdigung anziehe, werde ich danach nie wieder tragen”, heißt es schon auf der ersten Seite. Theresa ist tot. Marta wirkt innerlich zerrissen. Die Germanistin aus Ungarn mit Wurzeln in Thüringen nimmt das Leben nicht leicht. Hochkompliziert und heikel ist ja schon das Gefüge der beiden Familien. Der Onkel, Theresas Vater, ist immerhin in der ungarischen Botschaft in Ostberlin angesiedelt, auch wenn er nicht Diplomat ist. Und wir schreiben das Jahr 1986. Anders als heute ist mit Ungarn eine relative Liberalität verbunden.
Die Lesung lässt spüren, wie wichtig der Autorin die Figuren sind, nicht nur die Ich-Erzählerin. Sie habe intensiv recherchiert, gerade weil sie selbst in jenen Wendejahren noch ein Kind war und als Ungarin ab 1984 in Ost-Berlin eher Privilegien genoss. Einfache Zuordnungen weist sie zurück, etwa im Hinblick auf den jungen Lyriker Konstantin Berger und Uwe Kolbe. Aber untergründige Bezüge gebe es sicherlich, schon durch die intensive Beschäftigung mit oppositionellen Stimmen in der DDR. Bernd, ein Leidensgefährte von Konstantin, Stichwort staatliche Besserungsanstalt, nimmt sich das Leben. Theresas Tod indessen bleibt auch am Ende der Lesung noch ein Rätsel. Das ist beabsichtigt. Andreas Knaesche hätte fast zu viel herausgelockt.
Zwei Tage, vier Werke, etwa 1280 Seiten Lektüre, gut gewählte Auszüge, sehr unterschiedliche Performances, Frauenvielfalt eben und dazu ein perfektes Zeitmanagement. Das kam sehr gut an. Einen lebensbejahenden Ausklang gibt’s bei Kiss: “Alles erscheint mir plötzlich so klar und federleicht.”