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IN dierckes weltbild 1[32]
Wohlgewählte Farben im ersten DIERCKE Weltatlas, erschienen 1883.

Carl Diercke aus Kyritz und die brisante Frage einer adäquaten Weltsicht

03.11.2025 | Volkmar Heuer-Strathmann

Die Afrikanische Union wehrt sich dagegen, dass Afrika auf Weltkarten oft immer noch zu klein dargestellt werde, also einfach falsch. Die auf den Kyritzer Carl Diercke zurückgehende Erdbetrachtung im Weltatlas kann da, folgt man den Verantwortlichen, schon etwas länger mehr Realitätsnähe beanspruchen und Perspektivbewusstsein.

Einen kugelähnlichen Körper wie die Erde als plane Fläche unverzerrt darzustellen, ist nicht möglich. Selbst die KI dürfte sich da die toten Augen reiben. Aber über die Perspektive von Gerardus Mercator aus dem 16. Jahrhundert könnte man allmählich hinausgehen. Das zumindest fordert die Afrikanische Union. Afrika sei einfach größer. Grönland wird gerne zum Vergleich herangezogen, rein physikalisch-geografisch, nicht politisch.

Dass Weltkarten die Weltsicht prägen, wusste schon der 1842 in Kyritz geborene Pädagoge und Geograf Carl Diercke. In dem Band “DIERCKE – ein Atlas für Generationen” wird anschaulich dargestellt, vor welchen Schwierigkeiten man im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stand, wenn es um die Darstellung von natürlichen Höhen und Tiefen ging, um Formen und Strukturen, ganz abgesehen von Grenzfragen und Bezeichnungen. Der DIERCKE aus dem ab 1887 in Braunschweig ansässigen Westermann Verlag wurde im 20. Jahrhundert zum Etikett, vor allem durch den Schulatlas. Carl Diercke aus Kyritz in der Mark, dessen ambitionierter Lebensweg Stationen wie Salzwedel, Berlin, Riga, Stade, Osnabrück und Schleswig umfasste, starb 1913 in Wilmersdorf, noch nicht Berlin.

IN dierckes Weltbild zwei[33]
Carl Diercke von unbändigem Interesse am Bilde von Erde und Welt
Jürgen Espenhorst und seine Mitwirkenden verschweigen in jenem Band nicht, welche Brisanz die politische Topografie hat, nicht erst in der NS-Zeit. “In dem Maße, wie der Atlas von außen grün wurde, bräunte er sich von innen”, heißt es da. So sei Palästina ab der 80. Auflage aus dem Kartenmaterial gestrichen worden. Juden fehlten schon kurz zuvor auf der “Völkerkarte”. Namen der Schreibtischtäter sucht man vergeblich. Die Alliierten konnten das Treiben 1945 beenden. In der DDR gab es vierzig Jahre lang andere Werke, in der BRD wurde der neue alte DIERCKE Standard in allen Bundesländern.

Seitens der Westermann-Gruppe wies man 2017 darauf hin, dass die Welt im 21. Jahrhundert möglichst adäquat dargestellt werden solle: “Europa passt auf eine Doppelseite, für Afrika werden zwei benötigt.” Carl Diercke, selbst nicht glatt durch die Schulen gekommen und ohne Abitur geblieben, war seit 1874 im Amt in Stade auch mit Fragen der Lehrerausbildung befasst. Er wusste um die Bedeutung von Medien. Man denke nur an die großen Landkarten, an Kartenständer und Zeigestock – leicht missbrauchbar als Machtmittel.
Im Hause Westermann stieß Diercke seinerzeit auf offene Ohren und klare Augen. Auf nüchterne Geschäftsinteressen auch. Vorläufer hatten Wege angebahnt, aber das Erreichte war eben noch nicht das Wahre, teils sogar unansehnlich oder irreführend. Handhabbarkeit und Tragbarkeit waren beim Weltatlas von 1883 allerdings ein eher zweitrangiges Thema. Und Schulwege konnten sehr lang sein und mühsam und Ranzen vollbepackt. Ein Vorläufer des DIERCKE soll nicht in den Ranzen gepasst haben. Schlanke Rucksäcke wie heute waren nicht üblich.
Ein Hinweis aus dem Hause Westermann hätte Carl Diercke sicherlich gefallen: “Damit die Schülerinnen und Schüler ein Bewusstssein dafür entwickeln, dass es die eine, objektive richtige Kartendarstellung nicht geben kann, führt der Diercke Weltatlas mit einer Doppelseite in die Problematik der Projektionsformen ein.” So die aktuelle Sicht.

Satelliten und Drohnen, Plattformen und Tablets, GPS und KI – all das gehört heute zu Dierckes Welt. Online-Auftritt ebenso. Die Frage nach dem Weltbild des Menschen, der Menschheit hat größere Relevanz denn je, auch durch Fakes, auch durch politisch motivierte Federstriche oder das uneingelöste himmlische Wort von der einen Welt. Westermann geht mit der Zeit: “Der Diercke Weltatlas 2023 enthält mehr als 500 neue oder vollständig überarbeitete Karten. Zudem wurde die weltweite Bodenbedeckung und Landnutzung neu erfasst. Auch die Klimadaten sind hochaktuell: Grundlage aller Klimakarten sind die Werte der Klimaperiode 1991-2020, die somit erstmals kartographisch umfassend verarbeitet wurden.“ Da dürften auch die Lehrkräfte im Fach Politik-Wirtschaft gerne auf den DIERCKE zurückgreifen.

IN Dierckes Weltbild drei[4]
Naturgefahrenkarteein Blick auf die Nordhälfte der Bundesrepublik; 2023
In Kyritz erinnert man zu Recht an den Sohn der Stadt, der dem Geist der Aufklärung verpflichtet war, selbst mehr Fächer als üblich studierte und später nicht auf eine eitle Bildungselite setzte. Bei www.diercke.de ist man über den Eurozentrismus hinaus und dem Namenspatron zugleich tief verbunden. Seine Seh- und Gehhilfe hätten schon kluge Köpfe wie Kant und Herder gut gebrauchen können, um ihr Bild von Gott und der Welt zu fundieren. Herder selbst hatte in seinen Schulreden mehrfach mehr geografische Bildung gefordert. Durch Eisenbahn und Automobil, durch Motorschiff und Flugzeugrouten, durch Navigation und Radar bekam die Kartografie noch größere Bedeutung und wechselnde Grundlagen. Was Theodor Fontane bei seinen Wanderungen außer dem Stock zur Hand nahm, ist sicherlich schon untersucht worden.

Quelle Fotos:
Fotorepro 1,2 aus Jürgen Espenhorst u.a.; DIERCKE – ein Atlas für Generationen, Schwerte 1999
Fotorepro 3: Internet- und Atlasmaterial, Westermann Verlag 2023